1.3 Narrativer Raum für Eure Kampagne

Der erste Schritt des Narrative-Change-Planungsprozesses - Fokus und Anknüpfungspunkt finden - besteht aus fünf Elementen, die Euch bei der Entwicklung einer Kampagnenstrategie unterstützen. Auf dieser Seite konzentrieren wir uns auf das dritte Element: den narrativen Raum für Eure Kampagne.

IDENTIFIZIERUNG DES FOKUS UND AKNÜPFUNGSPUNKTES

Elemente

  1. Zielsetzung auf mittlere Segmente & deren aktuelle Frames

  2. Positive Wertekarte

  3. Narrativer Raum für Eure Kampagne

  4. Gelegenheit oder Anknüpfungspunkt

  5. Erreichbare Kampagnenziele

 

Die Elemente 2, 3 und 4 in Schritt 1 sind miteinander verbunden und als Block zu verstehen: Um zu einem Resonanzraum zu gelangen, der die Mitte einbindet, müssen die Kampagnenmacher*innen

  1. die positiven Werte identifizieren und grafisch darstellen, die die Zielgruppe selbst durch ihre Ansichten/Positionen fördern bzw. verteidigen will (1.2),
  2. eine Schnittmenge an gemeinsamen Werten finden und einen Narrativraum wählen, der für die Organisation, die die Kampagne durchführt, angemessen ist (1.3) und
  3. die sich mit einer identifizierten bevorstehenden Debatte oder Veranstaltung verbinden lässt (1.4).

Dies ist eine Art Kanalisierungsprozess, der zu einem Raum für resonante Botschaften führt (siehe Diagramm auf 1.2). Der nächste wichtige Teil des Kanalisierungsprozesses in diesem Element ist die Identifizierung einer Schnittmenge an gemeinsamen Werten und eines narrativen Raums, auf dem Ihr Eure Kampagne aufbauen wollt. Bei der Auswahl dieses narrativen Raums geht es nicht nur um Gemeinsamkeiten mit der Mitte, sondern auch darum, dass Ihr bereit sein müsst, in der Öffentlichkeit die Werte hinter dem gewählten Narrativ zu vermitteln. Wir haben diese zentrale Entscheidung um die unten aufgeführten Aufgaben herum aufgebaut.

 

Identifiziert einen Werte-/Kommunikationsraum, mit dem Ihr leben könnt

Sobald eine positive Wertekarte für ein Segment entwickelt wurde, stellt sich eine sehr wichtige Frage: Welche Werte aus der Liste könnt und wollt Ihr/Eure Organisation bzw. Euer Bündnis ansprechen? Will man die Mitte erreichen, ist es normalerweise notwendig, einen Aufruf an einen konservativeren Werteraum zu richten, als es die meisten Progressiven gewohnt sind. Das zeigen unsere beiden Beispiele aus Großbritannien:

FALLBEISPIEL 1 – Mohnblumen-Hijab-Kampagne – British Future – Großbritannien

In diesem Fall bezog sich der Werteappell auf einen Krieg und patriotisches Gedenken.
 
FALLBEISPIEL 2 – Shrewsbury Prayer Centre – HOPE not hate – Großbritannien
In diesem Fall bezog sich der Werteappell auf Botschaften zur Religionsausübungsfreiheit und Fragen des Anstands.
 

 

In seiner sehr aufschlussreichen Analyse der moralischen „Geschmacksnerven“ von Liberalen und Konservativen beschreibt der Moralpsychologe Jonathan Haidt, wie in der folgenden Abbildung dargestellt, dass sich Liberale eher auf Fragen des Schutzes, der Fairness und Freiheit konzentrieren, mit dem Kernwert „Schutz für die Opfer von Unterdrückung“.

Abbildung 1 – Der Werteraum Eckpfeiler von Liberalen

Die Sozialkonservativen konzentrieren sich hingegen auf eine breitere Wertebasis, die mit Schutz, Fairness und Freiheit beginnt, aber auch Loyalität, Autorität und Reinheit umfasst. Zusammengenommen führt dies dazu, dass ihr wichtigster Wert lautet: „Erhaltung der Institutionen und Traditionen, die eine moralische Gesellschaft aufrecht erhalten“1 .

Abbildung 2 – Der Werteraum Eckpfeiler von Konservativen

 

Anhand der oben genannten Beispiele aus Großbritannien lässt sich deutlich erkennen, dass beide Kampagnen eher an sozialkonservative Werte appellieren: im „British Future“-Beispiel mit einem Fokus auf Treue und Reinheit (Patriotismus) und im Falle der Kampagne von HOPE not hate mit einem Appell an Freiheit und Reinheit (Religionsausübungsfreiheit). Dies zeigt, dass es nötig ist, auf diese sozialkonservativen Werte zuzugehen, um bei der Mitte eine wirkliche Resonanz zu erzielen und effektiv zu kommunizieren; natürlich müsst Ihr Euch mit diesem Schritt wohlfühlen.

Die folgende Tabelle enthält fünf weitere Beispiele für Kampagnen und Messaging, die sich in eine ähnliche Richtung bewegen:

  Kampagne Botschaft Werteappell
 
UK
 
 
1. #WeAreAllEngland/British Future 
(Kampagne anlässlich des Euro 2016 Fußballtuniers)
“Bringt Menschen aller Hintergründe in England zusammen, um unsere gemeinsame Identität zu feiern.” Niedrigschwelliger Patriotismus & Gemeinschaftszugehörigkeit
2. A fair deal on migration for UK/Institute of Public Policy Research2 (Meinungsstudien zur Überprüfung einer Fairness-Botschaft an die Öffentlichkeit) ‘Wenn Migrant*innen hart arbeiten, in das System einzahlen und die britischen Werte hochhalten, sollten wir sie im Vereinigten Königreich willkommen heißen.’ Fairness, harte Arbeit, Einbringung und Integration
 
US
 
 
3. Welcoming America – Reframing refugees3 Umzuziehen ist normal, sowohl für Migrant*innen als auch für US-Bürger*innen, sodass man ihnen erlauben sollte zu arbeiten, zu ihren Communities beizutragen und Bürger*innen werden zu können. Sie tun dasselbe wie wir (Umziehen), Arbeitsethik, Einbringung und Integration.
 
4. Welcoming America – Stand Together4 : Messaging to Support Muslims and Refugees in Challenging Times Die Religionsfreiheit gehört zu den Gründungsprinzipien der USA, und jetzt müssen sich Menschen aller Glaubensrichtungen zusammenschließen und mit offenen Herzen und Mitgefühl zusammenarbeiten, um Neuankömmlinge willkommen zu heißen. Religionsfreiheit, Humanitarismus und Mitgefühl
5. Frameworks institute – Finish the story on immigration5 (Forschung zum Messaging in der Debatte um eine Reform der Zuwanderung) Einwander*innen sollten mit Mitgefühl behandelt werden, aber wir brauchen echte Lösungen, die eine Perspektive der Staatsbürgerschaft bieten, so dass wir alle davon profitieren können. Humanitarismus, Pragmatismus und gemeinsamer Wohlstand

 

 

Die meisten deutschen Aktivist*innen, mit denen wir zusammenarbeiten, fühlen sich sehr unwohl bei Appellen an Patriotismus, kommen aber besser zurecht mit Werteappellen an die Solidarität in der Gemeinschaft, Lokalstolz, Familie, religiöse Toleranz und ein inklusives Konzept von Heimat oder Heimatland. Die Bewältigung dieses Balanceakts ist von grundlegender Bedeutung für die Bildung einer soliden Grundlage für Eure Kampagne. Eine solche Kampagne ermöglicht es Euch, die Mitte zu erreichen und dort Resonanz zu erzielen, und gleichzeitig auch Eure Botschaft so zu fokussieren, dass Ihr einen Dialog führen könnt, bei dem Ihr Euch wohlfühlt.
 
Neben der Bereitschaft, sich in diese Richtung zu bewegen, ist es auch entscheidend, dass Ihr als Botschafter*innen authentisch wirkt. Wenn die Kampagne weit über die ursprüngliche Botschaft hinausgeht, werdet Ihr Euren Standpunkt erklären und klar hinter den Werten stehen müssen, die Ihr verteidigt und/oder fördert. Darüber hinaus solltet Ihr auch bedenken, dass eine spürbare Verschiebung Eurer Botschaften möglicherweise zu einem Gefühl der Entfremdung bei Euren bisherigen Unterstützer*innen, Partner*innen oder Mitgliedern führen könnte. Daher müsst Ihr entweder hart daran arbeiten, Eure Unterstützer*innen mit an Bord zu holen, wenn Ihr Euch außerhalb Eures üblichen Botschaftsraumes bewegt, oder über einen Werteappell nachdenken, der sich nicht zu weit außerhalb Eurer Komfortzone befindet und nicht zu entfremdend auf Eure Unterstützer*innen wirkt.

 

Wählt einen Wertebereich, der für Euch geeignet ist und bei der Mitte Resonanz findet.

Möglicherweise gibt es eine ganze Reihe von Optionen für Narrativbereiche, die Ihr für Eure Kampagne nutzen wollt – in diesem Stadium müsst Ihr aber eine Entscheidung über die Erzählrichtung für die Kampagne treffen. An dieser Stelle gilt es, den nächsten Schritt im Kanalisierungsprozess zu machen, indem Ihr die positiven Werte betrachtet, die von Euren Segmenten vertreten werden, eine Überschneidung mit den Werten findet, die Ihr bereit seid, anzusprechen, sowie im letzten Schritt, indem ihr herausarbeitet, wie diese sich mit der Ziel-Veranstaltung oder Debatte verbinden lassen. Darum geht es im Folgenden.

 

CHECKLISTE FÜR DIE PLANUNG
Schritt 1.3 – Narrativer Raum für Eure Kampagne
  • Was sind die Kernwerte, die Eurer Arbeit zum Thema Migration zugrunde liegen?
  • Auf welchen Werten könnte Eurer Meinung nach eine Botschaft aufbauen, wenn Ihr Euch die positive Wertekarte Eurer/Eures Zielsegmente(s) betrachtet? Schaut Euch Eure ursprüngliche Liste aus Element 1.2 an.
  • Mit der Nutzung welcher Werteappelle für die Kampagne würdet Ihr Euch bzw. sich Eure Organisation/Euer Bündnis wohlfühlen? Über welche dieser Appelle könnt Ihr vertieft im Rahmen der Kampagne sprechen?
  • Wie werden Eurer Meinung nach die Unterstützer*innen, Mitglieder und Partner*innen reagieren? Werden sie Eure Messaging-Auswahl/Werteappell an Sozialkonservative verstehen und unterstützen?

 

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