Kapitel 5-1 Die Stories & Protagonist*innen
Im Mittelpunkt der #KommMit-Strategie steht das Storytelling: Das Entwickeln und Teilen von Stories aus dem Alltag von Muslim*innen in Deutschland, um die angestrebten Werteappelle zum Leben zu erwecken und den Diskurs von der aktuellen Situation wegzubringen, in der anklagende Geschichten über Parallelgesellschaften und unbegründete Sicherheitsbedrohungen von Muslim*innen dominieren.
In diesem Kapitel wird dieser wichtige Aspekt des Pilotprojektes näher beleuchtet, um einen Einblick zu geben in:
- Die erfolgreichsten Stories aus dem #KommMit-Projekt im Storyboard-Format und warum sie gut funktionierten
- Die strategischen Grundlagen und längerfristigen Expansionspläne für die Stories im #KommMit-Projekt
- Die wichtigsten Erkenntnisse aus dem Prozess der Entwicklung dieser Stories, darunter
- die Arbeit mit Protagonisten
- der Interview-Ansatz
- die Entwicklung von Stories aus den Interviewdaten.
Im gesamten Kapitel findest Du Checklisten, die denjenigen, die sich für diesen Narrative Change Storytelling-Ansatz interessieren, den Einstieg in diesen Arbeitsbereich erleichtern.
5.1 Die am besten performten Stories im #KommMit-Pilotprojekt
Die drei folgenden Storyboards waren die erfolgreichsten von insgesamt neun im Rahmen des #KommMit-Pilotprojektes getesteten Stories. Für jedes Storyboard geben wir auch einen Überblick über die Ziele der Story nach dem KFC-Modell, d. h., was die Zielgruppe wissen, fühlen und tun soll/Aufruf zum Handeln (Know, Feel, and do/Call to action) (Erfahre mehr zum KFC-Modell in Abschnitt 5.5.2 ).
5.1.1 Murat - Honigstory
Diese Story veränderte die Einstellung der Zielgruppe „Die Etablierten“ zu Muslim*innen und Migration in einem Randomised Controlled Trial-Test um +10 % ins Positive. Weitere Einzelheiten zum Test und zu den Testergebnissen findest Du in Kapitel 3.
Ziele für die Story:
Werteapelle | Interdependenz, Solidarität, Partizipation, Stabilität |
Topline-Narrative | Gemeinsam stärker bei der Bewältigung von Herausforderungen |
Was die Zielgruppe wissen soll (know/K) | Murat ist ein wichtiger Teil der Dorfgemeinschaft und unterstützt sie auf jede erdenkliche Weise. Er ist fürsorglich, verantwortungsbewusst und großzügig, kümmert sich um die Bienen und möchte die Früchte der Arbeit mit der Gemeinschaft/den Nachbarn teilen. |
Was die Zielgruppe fühlen soll (feel/F) | Herzlichkeit, Warmherzigkeit, Dankbarkeit, Wertschätzung, Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit |
Aufforderung zum Handeln (call/C) | Erfahre mehr über Murat und #KommMit auf der Projekt-Website. |
Szene | Visualisierung | DE |
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1 | Seit vier Jahren kümmert sich der Dorfschreiner um die Bienenstöcke in seiner Nachbarschaft. „Menschen, die Honig mögen, haben eine bestimmte Ethik. Sie sind meistens sehr offen und respektvoll.“ | |
2 | Um seine Liebe zum Honig besser teilen zu können, baut er ein kleines Holzhaus. Dort hinein stellt er seinen Honig und eine Kasse des Vertrauens. | |
3 | Jetzt können alle in der Dorfgemeinschaft den Honig ihrer summenden Nachbarn, wann immer sie wollen. | |
4 |
Leute kommen für Murats Honig und werden schließlich seine Freunde. “Über Honig freuen sich alle. Wenn ich Honig in mein Häuschen stelle, ist das Eis gebrochen.“ #HomeSweetHome |
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5 |
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Erfahre mehr über Murat #KommMit |
Tabelle 7: Murat - Das Honig-Storyboard
Warum diese Story gut funktioniert
Die richtige Balance zwischen Resonanz und Dissonanz in diesen Stories zu finden, ist entscheidend. Was in dieser Story auf einer ersten Ebene ankommt, ist der Fokus auf die Bienenzucht und den Honig. Viele Menschen empfinden Wärme und ein Gefühl der Verbundenheit Bienen halten, und es spricht sofort die positiven Eigenschaften von Gemeinschaft, Pflege, Erhaltung und natürlicher Süße an. Die Tatsache, dass der örtliche Schreiner dies für die Gemeinde tut, zeigt, wie sehr er sich beteiligt. Die Tatsache, dass er seinen Honig mit Hilfe der „Vertrauenskiste“ teilt, ist eindeutig das Sahnehäubchen auf der Torte der gegenseitigen Abhängigkeit in einer kleinen Gemeinde. Die warmen Emotionen, die diese Story auslöst, werden durch das Hashtag „home sweet home“ noch getoppt.
Die Dissonanz oder Herausforderung für die Zielgruppe entsteht, wenn es den Namen herausfindet und das Gesicht des Schreiners später in der Story sieht - das ist nicht derjenige, von dem es erwartet, dass er eine solch integrierte Rolle in einer kleinen deutschen Community spielt. Der Umgang mit dieser Art von Enthüllungen in solchen Stories kann eine wichtige Methode sein, um das richtige Gleichgewicht zwischen Resonanz und Dissonanz zu finden. Beispielsweise haben viele Kampagnenmacher*innen auf diese Weise Menschen mit Migrationshintergrund mit starkem regionalem Akzent vorgestellt. So hört die Zielgruppe die Person sprechen, bevor sie sie sieht, und der Überraschungsfaktor hat sich als Taktik bewährt, um die Zielgruppen dazu zu bringen, ihre Annahmen und Vorurteile zu hinterfragen. Auf diese Weise stellt diese Story direkt die Argumente der gesellschaftlichen Trennung in Frage, die den Kern des „Wir gegen die“ und der „Parallelgesellschaften“ bilden, die häufig die aktuelle polarisierende Debatte bestimmen.
5.1.2 Murat - Renovierungstory
Diese Story veränderte die Einstellung der Zielgruppe der „Etablierten“ zu Muslim*innen und Migration in einem Randomised Controlled Trial-Test um +9 % ins Positive. Weitere Einzelheiten zu den Testergebnissen findest Du in Kapitel 3.
Ziele für die Story:
Werteapelle | Partizipation, Beitrag, Interdependenz, Solidarität, Stabilität |
Topline-Narrative |
Gemeinsam stärker bei der Bewältigung von Herausforderungen Gemeinsame Herausforderung des Umzugs Stabile Zukunft |
Was die Zielgruppe wissen soll (know/K) | Dass es Zeit und Geduld für jeden braucht, um Beziehungen und Vertrauen aufzubauen, und dass Murat ein vertrauenswürdiges Mitglied der Gemeinde geworden ist, indem er den normalen Prozess durchlaufen hat und jetzt sogar die Schlüssel zu öffentlichen Gebäuden besitzt. |
Was die Zielgruppe fühlen soll (feel/F) | Vertrauenswürdigkeit, Sicherheit, Geborgenheit, Zuverlässigkeit, Respekt, Hoffnung |
Aufforderung zum Handeln (call/C) | Erfahre mehr über Murat und #KommMit auf der Projektwebseite. |
Szene | Visualisierung | DE |
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1 |
Als er frisch nach Steinfurth gezogen war, kannte er niemanden. Er war hierhergekommen, um die Rolle des Dorfschreiners zu übernehmen. Der alte Schreinermeister war zuvor ohne Nachfolger verstorben. Wie alle, die an einen neuen Ort ziehen, war es für ihn anfangs schwierig. |
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2 |
Nach und nach aber kamen Menschen aus dem Dorf und sogar der Region zu Murat und baten ihn um Hilfe bei ihren Reparaturen oder dem Ausbau ihrer Häuser. Sie sahen die Liebe, die er für sein Handwerk hegte. Und Schritt für Schritt wurden aus Fremden Nachbarn und schließlich Freunde. |
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3 | Mittlerweile wurden ihm die Schlüssel für die Häuser seiner Nachbarn anvertraut. Und auch für öffentliche Gebäude im Dorf, wie dem Kindergarten. | |
4 |
Ein ganz besonderer Moment für Murat war, als er die blaue Tür der lokalen Kirche restaurierte: “Ich liebe Kirchen. Ich schaue nicht so auf die Religion, sondern ich schaue auf den Geist. Und ich sehe, dass da eine große Liebe in diesem Gebäude drinsteckt.“ |
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5 |
Murat widmet sich mit Leidenschaft, sein Handwerk und auch die traditionsreiche, lokale Infrastruktur für uns alle zu bewahren – heute und für die Zukunft. Und die Dorfgemeinschaft weiß, sie kann auf ihn zählen. |
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6 |
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Erfahre mehr über Murat #KommMit |
Tabelle 8: Murat - Das Storyboard der Renovierung
Warum diese Story gut funktioniert
Viele Aspekte dieser Story dienen dazu, bei der mittleren Zielgruppe Resonanz zu erzeugen. Angefangen bei dem Hauptnarrativ über die „gemeinsame Herausforderung des Umzugs“ in eine kleine Gemeinde, die für jeden schwierig ist und bei den Lesern von Murats Story Mitgefühl hervorruft. Die Tatsache, dass es kein Patentrezept gibt, ruft ebenfalls Respekt und Bewunderung hervor, denn Murat erzählt, dass er sein Unternehmen Schritt für Schritt aufgebaut und seine Freunde gefunden hat, wobei er all die normalen Herausforderungen sowie einige zusätzliche, die er als Muslim erlebt hat, bewältigt hat. Im Laufe der Zeit baute er das Vertrauen der Gemeinschaft so weit auf, dass er für viele in seiner Gemeinde eine Schlüsselrolle einnahm. Die Rolle des „Schlüsselhalters“ spricht Bände: In einer Community ist sie ein einfacher, aber sehr wichtiger Indikator für den Aufbau von Vertrauen, gegenseitiger Abhängigkeit und Solidarität.
Als spiritueller Mensch, der sich sehr für die Gemeinschaft interessiert, liebt er Räume, die die Seele der Gemeinschaft nähren und unterstützen, und arbeitet an der Reparatur und Restaurierung der Kirchentür, was wiederum das Gefühl des Vertrauens und der Solidarität stärkt. Die blaue Tür ist ein sehr einprägsames und markantes Bild, das diese Botschaft unterstreicht. Im weiteren Sinne ist es in solchen kleinen Communities eine ständige Herausforderung, die Tradition der lokalen Handwerker aufrechtzuerhalten, und durch Murats Engagement bringt er Stabilität und Hoffnung für die Zukunft.
Die Dissonanz, die durch diese Story entsteht, ist das Herzstück von #KommMit: Eine einfache, alltägliche Story eines Handwerkers - der zufällig einen muslimischen Hintergrund hat -, der sich ein neues Leben in einer kleinen Gemeinde aufbaut. Und obwohl er Höhen und Tiefen erlebt, gelingt es ihm, seinen Platz zu finden und ein vertrauenswürdiges Mitglied der Community zu werden. Dies steht natürlich in krassem Gegensatz zu dem in der öffentlichen Debatte weit verbreiteten Bild der „Parallelgesellschaften“. Schließlich ist die Tatsache, dass ein Schreiner muslimischen Glaubens so viel Sorgfalt und Stolz auf die Restaurierung der alten blauen Kirchentür verwendet, für diese mittlere Zielgruppe unerwartet und stellt die weit verbreitete Ansicht in Frage, dass der Islam und die Muslim*innen anderen Religionen gegenüber intolerant sind und sich aus dem gemeinsamen Gemeindeleben heraushalten wollen - falsche Vorstellungen, die den Kern der „Parallelgesellschaft“ bilden.
5.1.3. Ayoub – Ausbildung & Mentoring story
Diese Story hat in einem Randomised Controlled Trial-Test die Einstellung der „Etablierten“ zu Muslim*innen und Migration um +6 % positiv beeinflusst. Siehe das Video, das aus diesem Storyboard erstellt wurde [mit englischen Untertiteln], und weitere Informationen zu den Testergebnissen findest Du in Kapitel 3.
Ziele für die Story:
Werteapelle | Generationsübergreifende Zukunft, Interdependenz, Solidarität, Partizipation, Stabilität |
Topline-Narrative |
Generationsübergreifende Zukunft Gemeinsam stärker bei der Bewältigung von Herausforderungen |
Was die Zielgruppe wissen soll (know/K) | Ayoub ist ein leidenschaftlicher Bäcker, aber auch ein Lernender und Mentor in der Ausbildung. Er macht sich Gedanken über die Zukunft des Bäckerhandwerks und der lokalen Unternehmen, insbesondere darüber, wie die nächste Generation an Bord geholt werden kann. |
Was die Zielgruppe fühlen soll (feel/F) | Besorgnis, Erleichterung und dann Hoffnung für die Zukunft; Stolz auf das Ausbildungssystem und die Menschen, die hart daran arbeiten, die Zukunft zu sichern. |
Aufforderung zum Handeln (call/C) | Erfahre mehr über Ayoub und #KommMit auf der Projekt-Webseite. |
Szene | Visualisierung | DE |
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1 |
Brotbacken in einem Industrieofen - Video |
In NRW mussten zwischen 2009 und 2019 ein Drittel aller Bäckereien schließen. |
2 |
siehe oben |
Was wäre, wenn Du für Deine Brötchen 25 Kilometer fahren müsstest? |
3 |
Ayoub knetet Teig (Details der Hände). |
Zum Glück gibt es Ayoub. Einen von 400 stolzen Bäckerinnen und Bäckern der Bäckerei Kanne in Lünen. |
4 |
Ayoub lächelt und hält ein Tablett mit deutschen Brötchen in der Hand. |
“Ich lerne seit fast 16 Jahren als Bäcker und Konditor" "und ich lerne noch.” |
5 |
“Ich möchte auch neuer Generation beibringen.” |
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6 | “Wir sagen hier in Deutschland: Gibt es kein Meister von Himmel runtergefallen.” | |
7 | Dank Ayoub und seinen Kolleginnen und Kollegen muss niemand in Lünen 25 Kilometer zur nächsten Bäckerei fahren. | |
8 |
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Hungrig für mehr? Erfahre mehr über ihn #KommMit #BackenWirEsAn |
Tabelle 9: Ayoub – Ausbildung- und Mentoring-Storyboard
Warum diese Story gut funktioniert
In dieser Story schwingen die Herausforderungen mit, die alle Menschen in kleinen Gemeinden erleben, und die Leidenschaft von Ayoub als Brücke zur sicheren Zukunft der örtlichen Bäckereien. Lokale Unternehmen wie Bäckereien sind in vielen kleinen Gemeinden in Schwierigkeiten, und sie werden schmerzlich vermisst, wenn die Menschen nicht in der Lage sind, am Wochenende die Straße hinunterzulaufen, um frische Brötchen zu holen. Ayoubs Interesse an den zukünftigen Generationen von Bäckern und dem Fortbestand lokaler Unternehmen wird daher geschätzt und löst eine positive Reaktion aus. Darüber hinaus hat Ayoub eine offensichtliche und natürliche Leidenschaft für sein Handwerk und für sein kontinuierliches Lernen und seine Ausbildung - das Video demonstriert seine Backkünste und seinen persönlichen Charme. So werden die Wertvorstellungen von Beteiligung, Interdependenz und gemeinsamer Zukunft zum Leben erweckt.
Der dissonante Aspekt des Videos besteht darin zu zeigen, wie eine diverse Gemeinde bereits die Zukunft dieser eher traditionellen Berufe in Deutschland ausmacht. Zu sehen und zu hören, wie leidenschaftlich Ayoub seine Rolle bei der Fortführung der Backtradition eines lokalen deutschen Familienunternehmens, das seit über einem Jahrhundert besteht, wahrnimmt, ist eine direkte Herausforderung für die fatalistische Perspektive, die bei Diskussionen über Multikulturalismus und Integration häufig vertreten wird.