1.1 Zielsetzung auf mittlere Segmente & deren aktuelle Frames

Der erste Schritt im Planungsprozess einer Narrative-Change-Kampagne - Identifizierung des Fokus und Aknüpfungspunktes - besteht aus fünf Elementen, die Euch bei der Entwicklung einer Kampagnenstrategie unterstützen. Auf dieser Seite konzentrieren wir uns auf das erste Element: Zielsetzung auf ein mittleres Segment/mittlere Segmente und aktuelle Frames/Positionen.

 

IDENTIFIZIERUNG DES FOKUS UND AKNÜPFUNGSPUNKTES
Elemente
  1. Zielsetzung auf mittlere Segmente & deren aktuelle Frames
  2. Positive Wertekarte
  3. Narrativer Raum für Eure Kampagne 
  4. Gelegenheit oder Anknüpfungspunkt
  5. Erreichbare Kampagnenziele

 

Um ein bestimmtes Segment der Mitte als Zielgruppe für Eure Kampagne zu identifizieren, ist es zunächst wichtig zu verstehen, wer in Eurem Kontext zur Mitte gehört und wie in dieser Gruppe das Thema Migration diskutiert wird. Aufbauend auf unserer Definition der Mitte und der Diskussion zu Beginn von Schritt 1 schlagen wir einen forschungsbasierten Ansatz vor, der sich auf die vier unten aufgeführten Aufgaben konzentriert, um die erforderliche Tiefe für den Aufbau einer zielgerichteten Kampagne zu erreichen.


Nutzt Ergebnisse der Segmentierungs- und Meinungsforschung, um ein besseres Verständnis der Mitte zu erhalten und darauf aufbauend entscheiden zu können, wer mit Eurer Kampagne allgemein angesprochen werden kann und soll.

Um mit der Arbeit an Eurer Kampagne anfangen zu können, müsst Ihr natürlich Genaueres über die mittleren Segmente wissen, die als potenzielle Zielgruppen für Eure Kampagne in Frage kommen. Eine zentrale Informationsquelle hierfür sind Ergebnisse der Meinungsforschung, die darauf abzielen, die gesamte Debatte zu verstehen, und in Segmenten strukturiert sind.

Unsere Partner, More in Common und Social Change Initiative, haben eine solche Studie für die deutsche Bevölkerung (siehe unten in Abbildung) durchgeführt und dabei fünf Segmente identifiziert1 In Abstimmung mit unserem deutschen Netzwerk sind wir der Meinung, dass zwei der identifizierten Segmente – die Wirtschaftspragmatiker*innen und die humanitären Skeptiker*innen – als „bewegliche“ Zielgruppen am aussichtsreichsten sind. Diese bilden daher die Hauptziele für die Kampagnen, die wir zusammen mit deutschen Partner*innen in unserem Narrative Change Lab unterstützten.

 

More in Common Segments_DE

Abbildung 1: Fünf Segmente, die in der Migrationsdebatte in Deutschland identifiziert wurden.

 

Der Segmentierungsansatz bietet einen intensiven Einblick in die verschiedenen Einstellungen zu wichtigen Migrationsthemen, bündelt sie entsprechend dieser Meinungen und lässt auf diese Weise ein Profil der jeweiligen Gruppe entstehen. Ein Überblick über das entsprechende Profil unserer beiden Zielgruppen aus der Mitte gestaltet sich wie folgt:

Wirtschaftspragmatiker*innen:

  • 20 Prozent der Bevölkerung
  • stolz darauf, sich als Deutsche*r zu identifizieren.
  • blicken positiv in die Zukunft 
  • meinen, Einwanderung führe zu mehr Offenheit für neue Ideen und Kulturen in Deutschland
  • sind besorgt über die Möglichkeiten, Muslime/Musliminnen zu integrieren, und glauben nicht, dass Geflüchtete dauerhaft bleiben sollten
  • überwiegend CDU/CSU-, SPD-Wähler*innen

Humanitäre Skeptiker*innen:

  • 23 Prozent der Bevölkerung
  • betrachten die Aufnahme von Geflüchteten als Pflicht, haben aber Bedenken und widersprüchliche Gefühle
  • glauben, andere Europäer*innen sollten die Last verstärkt tragen
  • haben Zweifel an einer erfolgreichen Integration
  • ältere Gesellschaftsschichten
  • überwiegend CDU/CSU-, FDP- und Die Linke-Wähler*innen

Die Aufteilung der mittleren Segmente in dieser Form hat einen klaren Mehrwert: Sie ermöglicht es progressiven Kampagnenmacher*innen, der Versuchung zu widerstehen, all jene als „Gegner*innen“ über einen Kamm zu scheren, die nicht eindeutig eine Pro-Migrations-Haltung einnehmen. Die nuanciertere und tiefere Einsicht und Klarheit hinsichtlich der Zielgruppen wiederum hilft den Aktivist*innen, von Anfang an strategischer bei der Entwicklung von Kampagnen vorzugehen, insbesondere bei der Entwicklung zielgerichteter Botschaften, die ein gutes Resonanzpotenzial in der Mitte aufweisen.

Es gibt weitere, öffentlich zugängliche Segmentierungsforschung dieser Art - hauptsächlich in Bezug auf europäische Länder - insbesondere bei unseren Partnern More in Common und Social Change Initiative.

Schaut Euch auch Frank Sharrys wichtigste Lektionen zum Erreichen der Mitte an:

Personifiziert und versucht, die Mitte als Menschen zu verstehen.

Meinungs- und Segmentierungsforschung sind ein unverzichtbarer Ausgangspunkt. Es ist jedoch auch wichtig, die Mitte als Menschen zu verstehen. In unseren Narrative-Change-Kampagnen versuchen wir, Verbindungen mit anderen Menschen aufzubauen, um ihnen neue Empfindungen zu vermitteln. Der Ausgangspunkt muss also darin bestehen, die Zielgruppen emotional und rational zu verstehen. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass dieser Entmystifizierungsprozess die Aufgabe der Kampagnenentwicklung viel einfacher und effektiver macht, wenn man eine Person bzw. Personen im Sinn hat und nicht nur ein abstraktes Konzept wie die "Mitte". Für diesen Personifizierungsprozess haben wir einige praktische Vorschläge:

  • In unseren Workshops bitten wir die Teilnehmer*innen, die Segmente aufzudröseln und den Personen in jedem Segment Namen zu geben, ihre Profile zu beschreiben und sie sogar zu zeichnen (siehe Gabi, eine Vertreterin des Segments „Gemäßigte Gegner*innen“ in Deutschland).
  • Wir führen auch eine Reihe von Rollenspielen durch, um den Teilnehmer*innen zu helfen, darüber nachzudenken, wie sie die Menschen im jeweiligen Segment einbeziehen können. Zudem bitten wir die Teilnehmer*innen, in die Fußstapfen der Mitte zu treten, indem sie die Rollen von Menschen aus den Zielsegmenten sowie von Kampagnenmacher*innen übernehmen.
  • Viele Kampagnenmacher*innen, mit denen wir arbeiten, berichten, dass sie begonnen haben, zuzuhören und sich mehr mit denjenigen um sie herum zu beschäftigen, die Teil der Mitte sind. Oftmals sind dies unsere Nachbar*innen, Eltern, Verwandten oder Menschen, die einem in der Bahn gegenüber sitzen. Anstatt sich über ihre Meinungen zu ärgern, ist es für Eure Planung sinnvoll, ihnen ergebnisoffene Fragen zu stellen, ihre Anliegen zu hören und sie herauszufordern!

 


Abbildung 2: “Gabi” – Personifizierung des Segments „Gemäßigte Gegner*innen“ in der deutschen Debatte (entwickelt im Rahmen eines ICPA-Workshops in Berlin, Dezember 2017)

 

Obwohl viele Teilnehmer*innen diesen Personifizierungsprozess anfangs als herausfordernd empfinden – was wenig überraschend ist, da sie die Ansichten vieler in der Mitte herausfordern – wird es mit der Zeit einfacher. Und die Teilnehmer*innen berichteten, dass es ihnen leichter fällt, die Denkweise der Zielgruppe nachzuvollziehen, indem sie sich in ihre Lage versetzen, um so besser zu verstehen, was im Rahmen einer Kampagne eventuell Anklang finden könnte. Unser Hauptgrundsatz bei dieser Art von Aktivitäten ist, dass Verständnis nicht gleichbedeutend ist mit Zustimmung. Verständnis ist jedoch absolut unerlässlich, wenn Ihr eine Kampagne aufbauen wollt, die das Ziel hat, emotional intelligent zu sein und diese mittleren Segmente zu erreichen.


Versteht die aktuellen Positionen und Frames der Zielgruppe(n) aus der Mitte.

Die Strategie einer Narrative-Change-Kampagne besteht letzten Endes darin, die Debatte neu zu gestalten, indem man zuerst auf etwas verweist, das für die Zielgruppen erkennbar und verständlich ist. Auf diese Weise schafft man Vertrautheit und Beruhigung, bevor man dann deren gegenwärtiges Denken auf emotional intelligente Weise in Frage stellt. Um diese erste Verbindung herzustellen, benötigen die Kampagnenmacher*innen ein tiefes Verständnis der Positionen, Argumente, Frames und Auslöser (Trigger), welche die gegenwärtigen Denkweisen und Ansichten der mittleren Segmente in der Migrationsdebatte bestimmen.

Diese Erkenntnisse lassen sich der oben erwähnten Meinungs- und Segmentierungsforschung entnehmen und zusammenstellen. Wenn Ihr allerdings das Glück habt, auf eine „Frames-Map“ zur Debatte in Eurem Land zurückgreifen zu können, könnt Ihr auch diese Daten mit einbeziehen und eine klarere Vorstellung davon gewinnen, was die Positionen der Zielsegmente antreibt. Eine Frames-Map ist eine Analyse der gängigsten Narrative, die in der Debatte vorkommen, und eine Ausarbeitung der Werte und Argumentationslinien hinter diesen Narrativen2 . Diese können aus unterschiedlichen Diskursanalysen gewonnen werden. So haben wir eine Social-Media-Analyse in Auftrag gegeben, auf deren Grundlage wir unsere Frames-Map der deutschen Debatte erstellt haben (siehe Abbildung 3 unten).

Wenn eine Frames-Map verfügbar ist, ist es sinnvoll, die Segmente mit den Frames in Verbindung zu bringen. Für die Wirtschaftspragmatiker*innen in der deutschen Debatte bietet der orangfarbene Kasten beispielsweise einen Überblick über die wesentlichen Frames, die hinter deren Positionen stehen:

Abbildung 3: Abbildung des gemeinsamen Frame-/Narrativraums der Wirtschaftspragmatiker*innen in der deutschen Migrationsdebatte 


Aus dieser Zuordnungsübung wird sofort ersichtlich, welche Bereiche Ihr anvisieren könntet und was gleichzeitig zu vermeiden wäre, wenn die Wirtschaftspragmatiker*innen Eure Zielgruppe wären. Letztendlich bietet die Übung einen sehr nützlichen Ausgangspunkt, um zu überlegen, wie Ihr Eure Botschaften mit dem Segment verbinden könnt.


Sucht ein oder mehrere anfängliche Zielsegmente als Zielgruppe der Kampagne aus

Die Analyse und Diskussion der Forschung und des Personifizierungsprozesses führt die meisten Kampagnenmacher*innen zur Frage, wer aus der Mitte angesprochen werden soll. An diesem Punkt gilt es einige Entscheidungen zu treffen! Die Forschung wird oft auf nationaler Ebene durchgeführt – Ihr wollt aber eventuell eine bestimmte Region oder Stadt ins Visier nehmen, so dass ein Verständnis der demografischen Struktur und des Stimmverhaltens Eurer Zielregion helfen kann, die Segmentaufteilung der potenziellen Zielgruppe zu verstehen.

FALLBEISPIEL 4 – Narrative Change Lab – ICPA
In einer der von uns unterstützten deutschen Kampagne liegt der Schwerpunkt auf Bayern und insbesondere auf den Wähler*innen der CSU. Auf Grundlage einer Analyse von Parteizugehörigkeit und demografischen Faktoren – insbesondere des Alters – gehen wir davon aus, dass die Mehrheit der Parteimitglieder zum Segment der humanitären Skeptiker*innen gehört, während einige andere zu den Segmenten der Wirtschaftspraktiker*innen und gemäßigten Gegner*innen zu zählen sind.

 

 

CHECKLISTE FÜR DIE PLANUNG
Schritt 1.1 – Zielsegment(e) & deren aktuelle Frames
  • Welches Profil haben die mittleren Segmente in der Migrationsdebatte in Eurem Kontext?
  • Welche Namen würdet Ihr den verschiedenen Segmenten der Mitte geben? Gibt es bereits Forschungsergebnisse dazu?
  • Wie sieht das Leben der Menschen in den mittleren Segmenten aus? Kennt Ihr persönlich Menschen aus diesen Segmenten? Arbeitet daran, ein menschlicheres Profil derjenigen in der Mitte zu entwickeln.
  • Welche Hauptthemen bzw. -argumente werden von der Mitte in der Migrationsdebatte vertreten? Welche Werte stehen hinter diesen Positionen?
  • Welche Segmente der Mitte sind die beste Zielgruppe(n) für Eure Kampagne?

 

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