Kapitel 5-2 Die Stories & Protagonist*innen

 

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5.2 Strategische Grundlagen für den Story-Entwicklungsprozess

Stories sind das Bindeglied oder die Brücke zwischen Deinem Werteappell und dem Anliegen, das Du diskutieren willst, und deshalb sind sie das Herzstück des #KommMit-Pilotprojektes. Die folgende Abbildung fasst diese Beziehung zusammen:

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Abbildung 18: Die wertegeleitete Interventionslogik im Narrative Change-Ansatz von ICPA

Werte sind die Grundlage von Narrative Change, aber ohne Veranschaulichung können sie recht vage und konzeptionell bleiben. Die Notwendigkeit, Werte durch Stories zu vermitteln, wird in den Fokusgruppendiskussionen, die wir als Teil jedes Entwicklungsprozesses durchführen, sehr deutlich. Starkes, authentisches Storytelling spielt eine Schlüsselrolle, wenn es darum geht, einen Werteappell zugänglich und einprägsam zu machen und eine Grundlage für das Anliegen zu schaffen, das Du diskutieren willst. Gutes Storytelling vermenschlicht die Anliegen, die Du ansprichst, und erweckt so Deine Werte zum Leben.

Um die wichtigsten strategischen Grundlagen des #KommMit-Pilotprojektes (wie in Kapitel 4 ausführlich beschrieben) zu rekapitulieren, die dem Prozess des Storytellings zugrunde lagen:

  • Die gewählten Werteappelle (Interdependenz/Solidarität, Partizipation, Stabilität und generationsübergreifende Zukunft) funktionierten und brachten positive und konstruktive Reaktionen von den „Etablierten“. Dies zeigte sich in den Fokusgruppen und der Umfrage zu den Topline-Narrativen, was auf ein gutes Potenzial hindeutet, dass die Zielgruppe in dieser Frage bewegt werden könnte.
  • Im Zusammenhang mit den Schwerpunktanliegen wurden zwei spezifische Herausforderungen identifiziert: Nach den Tests in den Fokusgruppen wollte die Arbeitsgruppe zwei wiederkehrende Annahmen über Muslim*innen in Deutschland in Angriff nehmen, um das Narrativ in einen postmigrantischen Raum zu bringen, der die Realität der deutschen Gesellschaft im 21. Jahrhundert widerspiegelt:
    • Die Annahme der Zielgruppe, dass Muslim zu sein automatisch bedeutet, dass man ein Ausländer ist, was wir als „Muslim = Ausländer“ zusammenfassten;
    • dass Erfolgsstories über integrierte Muslim*innen in Deutschland eher die Ausnahme als die Regel sind.

In Anbetracht der langfristigen Ziele des Projektes ist das Storytelling auch ein Element und ein Treiber der Lösung. Das aktuelle Problem und die künftige Lösung scheinen in dem strategischen Kommunikationsziel der Präsenz zu liegen. Einfach ausgedrückt bedeutet der Aufbau von Präsenz eines Narrativs, dass es zu einem festen Bestandteil des öffentlichen Diskurses in der Debatte über Muslim*innen wird, die derzeit von Geschichten über Parallelgesellschaften und potenzielle Sicherheitsbedrohungen geprägt ist. Daher liegt ein Schlüsselelement der strategischen Kommunikationslösung darin, das Kräfteverhältnis weg von diesen normalisierten rechtsextremen Frames im Diskurs hin zu Stories über das normale Alltagsleben von Muslim*innen zu verschieben, die, wie das Pilotprojekt bereits gezeigt hat, das Ruder bei diesem Thema in den mittleren Gruppen in eine positive Richtung bewegen können. Einfach ausgedrückt: Die Verbreitung von Stories aus dem ganz normalen Leben ist die Neuausrichtung!

 

5.3 Arbeiten mit Protagonist*innen

Das Erzählen und Teilen von Stories aus dem Alltag von Muslim*innen in Deutschland steht im Mittelpunkt des Pilotprojektes #KommMit. Daher war es von entscheidender Bedeutung, Protagonist*innen zu finden, die bereit waren, ihre Story zu erzählen und ihre Story mit der Öffentlichkeit zu teilen, um dieses Ziel zu erreichen. Dies erwies sich als schwieriger, als es das Team erwartet hatte: Einige der angesprochenen Personen waren zwar interessiert und unterstützten die Ziele von #KommMit, waren jedoch besorgt über negative Reaktionen im Internet oder in ihren Communities, wenn ihre Stories öffentlich gemacht würden. Außerdem konnten einige andere, die ebenfalls interessiert waren, nicht die nötige Zeit aufbringen, um an dem Projekt teilzunehmen.

Im Rahmen des #KommMit-Pilotprojektes wurden schließlich Stories und Social-Media-Inhalte für drei Protagonisten aus dem Handwerk getestet: Ayoub, Yusuf und „Murat“. Die Protagonisten stimmten zu, auf verschiedenen Ebenen an dem Projekt teilzunehmen:

  • Ayoub war damit einverstanden, dass wir ihn interviewten, Videos drehten und seine Story in den sozialen Medien verbreiteten.
  • Yusuf willigte ein, dass seine Story auf der Projektwebsite veröffentlicht wird. Da er keine Zeit für den Interviewprozess hatte, wurde seine Story auf seinem bestehenden Social-Media-Profil und der Webseite für sein Unternehmen aufgebaut.
  • „Murat“ war zunächst voll und ganz einverstanden, doch nach dem Interview entschied er, dass er nicht wollte, dass seine Story öffentlich geteilt wird, da er in der kleinen Gemeinde, in der er lebt, Gegenreaktionen befürchtete. Er gab jedoch die Erlaubnis, seine Story unter dem fiktiven Protagonistennamen „Murat“ zu testen1 .

Interessierte müssen sehr vorsichtig sein, wenn sie direkt mit Protagonist*innen arbeiten, und es gibt viel begründete Kritik an der Rekrutierung und Behandlung von Protagonist*innen in öffentlichen Kampagnen, bei denen die Stimme der betroffenen Gruppe (z. B. Migrant*innen) im Vordergrund steht. Dabei geht es vor allem darum, wie viel Entscheidungsspielraum die Protagonist*innen haben und wie sie in öffentlichen Kampagnen dargestellt werden. Aufbauend auf unserer umfangreichen Erfahrung in diesem Bereich haben wir unsere Prozesse und unsere Sensibilität durch die Zusammenarbeit mit der Gruppe der Aktivist*innen, die das Projekt #KommMit entwickelt hat, geschärft. Die wichtigsten Einsichten und Erkenntnisse aus diesem Teil der Arbeit werden in den beiden folgenden Abschnitten erläutert.

 

5.3.1 Sicherheit & Zustimmung stehen bei der Arbeit mit Protagonist*innen an oberster Stelle

Bei der Unterstützung von Narrative Change-Arbeit, die sich auf authentisches Storytelling mit Protagonist*innen konzentriert, lassen wir uns von den Grundsätzen leiten, die James Spradley in seinem bahnbrechenden Werk dargelegt hat, nämlich dass wir „alles tun müssen, um das physische, soziale und psychologische Wohlergehen zu schützen und ihre Würde und Privatsphäre zu achten.2 " Da die Sicherheit der Protagonist*innen oberste Priorität hat, haben wir einen offenen Kommunikations- und Zustimmungsprozess in den Schlüsselphasen Phasen des Entwicklungsprozesses der Story entwickelt, der es den Protagonist*innen ermöglicht, ihre Story und ihre Teilnahme anzupassen, abzulehnen und/oder vollständig zurückzuziehen. In der Praxis bedeutet dies Folgendes:

 

Die Vermittlung von Zielen ist ein sich entfaltender Prozess und keine einmalige Angelegenheit.

Dieser Grundsatz war besonders wichtig, da wir zwei Tage mit den Protagonisten im Interviewprozess verbrachten und uns vor, während und nach dem Interview Zeit nahmen, um zu besprechen, was es mit sich bringt, ein/e Protagonist*in im #KommMit-Pilotprojekt zu sein. Dies gab ihnen Zeit und Raum, die Ziele und den Ansatz zu verstehen und diese in der gemeinsam verbrachten Zeit während des Interviews zu vertiefen. Wie bereits erwähnt, zog sich ein Protagonist – „Murat" - nach dem Interviewprozess aus dem #KommMit-Projekt zurück, was sein gutes Recht war. Die Protagonisten schätzten diese mehrfachen Möglichkeiten zur Klärung und zum besseren Verständnis des #KommMit-Projektes und ihrer Rolle darin.

 

Recht auf Anonymität, aber auch Warnung vor (selbst unbeabsichtigten) Risiken.

Wir boten den Protagonisten die Möglichkeit, auf mehreren Ebenen anonym zu bleiben: Indem sie keinen Namen nannten, ihren echten Namen ersetzten und/oder ihren Standort nicht preisgaben. Wir haben mit den Protagonisten offen darüber gesprochen, dass auch dann ein Risiko besteht, wenn sie sich für die anonyme Variante entscheiden, da ihr Gesicht von jemandem in ihrer lokalen Gemeinschaft erkannt werden könnte. Zwar entschied sich nur ein Protagonist für die Anonymität, doch alle äußerten sich anerkennend über diese Option und die Sorgfalt, die wir ihnen entgegenbrachten.

 

Erlaube den Protagonist*innen, zu sagen, dass die Dinge vertraulich sind.

Gemäß den journalistischen Grundsätzen konnten die Protagonisten jederzeit sagen, dass das, was sie während des Interviews erzählten, nicht für das eigentliche Projektmaterial in ihrer Story verwandt werden sollte. Die beiden befragten Protagonisten erzählten einige persönlichere Dinge, von denen sie wünschten, dass sie nicht aufgezeichnet werden. Wir kamen dieser Bitte nach und betrachteten diesen tieferen Austausch als Ausdruck des Vertrauens, das durch den Rekrutierungs- und Interviewprozess aufgebaut worden war.

 

Mache die Stories zur Freigabe verfügbar, bevor sie veröffentlicht werden.

Gemäß dem Grundsatz, dass die Zustimmung ein Prozess und kein einmaliger Vorgang ist, wurden die Protagonisten gebeten, alle Inhalte und Materialien, in denen sie vorkommen, freizugeben, bevor sie im Rahmen des #KommMit-Projektes öffentlich geteilt wurden. Wir haben den Protagonisten von Anfang an vermittelt, dass sie das letzte Wort haben und nichts ohne ihre Zustimmung und ihr offizielles grünes Licht öffentlich geteilt wird.

 

5.3.2 Lehren aus dem Rekrutierungsprozess der Protagonist*innen

Wie zu Beginn des Kapitels erwähnt, erwies sich die Rekrutierung von Protagonist*innen für das Projekt #KommMit als schwierig, da die mittlere Zielgruppe für dieses Narrative Change-Projekt über die Unterstützerbasis hinausging, mit der die meisten öffentlichen Kampagnen eher vertraut waren. Wir teilten offen mit, dass die Zielgruppe „Die Etablierten“ Muslim*innen gegenüber skeptisch war. Für Interessierte, die mit Protagonist*innen für eine auf die bewegliche Mitte ausgerichtete Narrative Change-Arbeit zusammenarbeiten möchten, bieten wir die folgenden Lehren aus den Erfahrungen mit #KommMit an.

 

Sei bereit, Zeit in die Rekrutierung zu investieren.

Die Rekrutierung der drei Protagonisten, die sich auf verschiedenen Ebenen für die Teilnahme an dem Pilotprojekt gemeldet haben, erforderte einen erheblichen Zeit- und Arbeitsaufwand. Praktisch alle Teammitglieder kontaktierten und sprachen mit mindestens einer weiteren Person, die schließlich aus Angst vor möglichen Gegenreaktionen und/oder aus Gründen der Verfügbarkeit nicht mitmachte. Um drei Protagonist*innen erfolgreich zu rekrutieren, wurden insgesamt 10 Personen kontaktiert. Mit jeder Person wurde Zeit investiert, um die Ziele und den Fokus des #KommMit-Projektes, die Rolle der Protagonist*innen zu vermitteln und Beziehungen und Vertrauen aufzubauen.

Dieses geringe Aufgreifen (Uptake) entstand, obwohl wir viel Zeit damit verbrachten, den potenziellen Protagonist*innen zu versichern, dass solche werteorientierten Projekte in den sozialen Medien überwiegend auf positive Resonanz stoßen, ohne dass es zu Angriffen oder Hate Speech im großen Maßstab kommt. Selbst als wir erklärten, dass sich das Pilotprojekt auf die sozialen Medien beschränken und es keine mediale Berichterstattung geben noch von ihnen erwartet würde, das Projekt in irgendeiner Weise live zu repräsentieren, konnte dies die Befürchtungen der meisten Menschen nicht zerstreuen. Es dürfte für den Rekrutierungsprozess hilfreich sein, nun in der Lage zu sein, die Materialien und Ergebnisse des konkreten #KommMit-Pilotprojektes zu teilen, anstatt nur abstrakt darüber zu sprechen. Es ist besonders wichtig zu zeigen, dass die #KommMit-Inhalte nicht zu nennenswerten Hate Speech oder Gegenreaktionen geführt haben - dies sollte hoffentlich die Ängste potenzieller künftiger Protagonist*innen verringern.

 

Die Protagonisten, die sich für die Teilnahme entschieden, waren bereits etwas in der Öffentlichkeit präsent.

Ayoub arbeitet in einer großen Bäckerei, die bereits Auszeichnungen für ihr Engagement für Vielfalt erhalten hatte, und er und seine Kolleg*innen waren im Rahmen der Berichterstattung über diese Auszeichnungen von den Medien interviewt worden. Außerdem hat Yusuf bereits ein beachtliches Social-Media-Profil auf Instagram und YouTube, in dem er für seinen Metzgereibetrieb wirbt und auch Diskussionen über die Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Bio- und Halal-Fleisch führt. Daher hatten beide eine gewisse Erfahrung mit der Art der öffentlichen Reaktion, die zu diesen Themen kommen kann, und dies erwies sich als ein Grund für ihre Bereitschaft, an dem Pilotprojekt teilzunehmen.

 

Auf Aussteiger vorbereitet sein und einen Plan B haben

Selbst wenn man sich ernsthaft für die Sicherheit einsetzt und die Messlatte für die Zustimmung hoch ansetzt, sollten Aktivist*innen darauf vorbereitet sein, dass einige Protagonist*innen aussteigen oder sich nicht so zur Verfügung stellen, wie Du es Dir wünschst. Daher musst Du letztendlich einen Plan B vorbereiten. Yusuf konnte sich zum Beispiel nicht auf ein Interview einlassen, stimmte aber unserer Bitte zu, stattdessen eine Story auf der Grundlage seines bestehenden Social-Media-Profils zu erstellen. Dies ist die zweitbeste Option und war eine nützliche Ergänzung für das Projekt.

 

Sei pragmatisch und beginne die Arbeit mit denjenigen, die an Bord kommen

Die drei Protagonisten, die schließlich an dem Pilotprojekt teilnahmen, waren allesamt männliche Handwerker - Bäcker, Metzgereiunternehmer und Schreiner. Das Team hatte auch versucht, aus anderen Berufen zu rekrutieren, in denen ein höherer Frauenanteil zu erwarten war, z. B. Friseur-, Schneiderhandwerk, aber leider ohne Erfolg. Es ist also eine Einschränkung des Pilotprojektes, dass es keine weibliche Protagonistin gibt, und diese Lücke wird zu einer Priorität für die künftige Rekrutierung von Protagonist*innen.

Ein Protagonist kam vor sechs Jahren als Geflüchteter nach Deutschland, einer ist in Deutschland geboren und aufgewachsen und ist das Kind von Einwanderern, und der dritte ist das Kind deutscher Eltern, das zum Islam konvertiert ist. Die Arbeitsgruppe wollte sich nicht auf Stories von Geflüchteten konzentrieren, da der Schwerpunkt des #KommMit auf der postmigrantischen deutschen Gesellschaft lag, aber die Story dieses Protagonisten hat trotzdem gut funktioniert.

Angesichts der Herausforderungen bei der Rekrutierung ist man oft in der Situation, dass diejenigen, die bereit und in der Lage sind, sich zu engagieren, nicht das ideale Abbild dessen sind, was man vermitteln will. Aber es gibt pragmatische Realitäten und Grenzen, die bei dieser Arbeit oft beachtet werden müssen, insbesondere wenn Du ein Projekt wie #KommMit in der Pilotphase auf den Weg bringen willst.

 

Checkliste für den EinstiegRekrutierung und Arbeit mit Protagonist*innen
Reflektiere über die Erkenntnisse und Lektionen, die wir oben über die Arbeit mit Protagonist*innen geteilt haben, und stelle Dir die folgenden Fragen in Bezug auf deine Arbeit:
  • Welche Erfahrungen hast Du bei der Rekrutierung von und der Arbeit mit Protagonist*innen für öffentliche Advocacy-Kampagnen gemacht?
  • Wie waren die Erfahrungen? Welche der genannten Herausforderungen sind Dir bekannt und welche sind neu?
  • Fallen Dir potenzielle Protagonist*innen aus Deinem Netzwerk ein, die zu dem Projekt #KommMit passen könnten?3

 

 

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  • 1Um seine Identität im weiteren Verlauf des Tests zu schützen, haben wir seinen Standort nicht preisgegeben und keine Bilder von ihm oder seinem Arbeitsplatz verwendet.
  • 2Spradley (1979)  The Ethnographic Interview. Holt Rinehart & Winston, New York
  • 3Eine Möglichkeit, diese Strategie umzusetzen, wäre die Ergänzung der bestehenden Datenbank mit Stories auf https://komm-mit.org, wie in Kapitel 7 vorgeschlagen.