0.0 Einführung zu den Leitlinien

Diese Richtlinien zielen auf progressive Aktivist*innen ab und werben dafür, die Mitte der Gesellschaft besser verstehen zu wollen. Denn nur so kann das Mainstreaming populistischer Narrative zurückgedrängt sowie Diversität und Inklusion wieder auf die Tagesordnung gesetzt werden. Es wird immer klarer, dass die üblichen Ansätze, nur mit Fakten und geltendem Recht zu argumentieren, für die progressive Agenda nicht hilfreich sind – mehr und mehr Populist*innen in Europa feiern Wahlerfolge, sodass wir etwas anderes versuchen müssen, um die öffentliche Debatte neu auszurichten. Mehr Einzelheiten zu den Herausforderungen finden sich in der Einleitung des Toolkits.

 

Antworten auf das Mainstreaming populistischer Narrative 

 

Neuausrichtung der Debatte und Kampagnen zur Einbeziehung der breiten Öffentlichkeit

Der zentrale Grundstein dieses Toolkits basiert auf etablierten Theorien und internationalen praktischen Erfahrungen mit „Narrative Change“-Kampagnen, welche auf dem „Reframing“-Ansatz aufbauen. In emotional aufgeladenen Diskussionen wie der aktuellen Migrationsdebatte werden die Werte, Sorgen und persönlichen Geschichten von Interessensvertreter*innen zu einem wichtigen Einstieg für einen echten Dialog und Engagement1 . Ein derartiger emotional kluger Narrative-Change-/Reframing-Ansatz umfasst üblicherweise die folgenden Elemente:

  • Anerkennung der berechtigten Sorgen des Zielpublikums 
  • Aufbau der Kampagne auf geteilten, positiven, vereinenden Werten
  • Start mit lösungsorientierten, resonierenden Botschaften, die das Publikum einbeziehen und Gefühle von Vertrautheit und Wärme wecken, gefolgt von:
  • Erweiterung um ein Element, welches das Publikum herausfordert, anders zu denken, also ein Element der Dissonanz. Das ist der Anknüpfungspunkt, den dieser Ansatz schafft.
  • Zuhören, offene Fragen in einer vernünftigen, zivilen Weise stellen, die einen offenen Dialog über Probleme erlaubt und so die Tür öffnet für eine klare und einnehmende Verteidigung progressiver Positionen

 
Das ist der Startpunkt, von dem aus man über einen offenen und inklusiven Prozess des gegenseitigen Zuhörens populistische Positionen nachdrücklich herausfordern kann.
 


Der Fokus liegt klar auf dem Herzen, nicht dem Kopf
 
Eine „Narrative Change“-Kampagne konzentriert sich auf das affektive, angenehme Pathos, erzählt Geschichten, die auf Erfahrung basieren, und strebt die Schaffung eines warmen Gefühls an, das das Publikum auf einfache Weise einnimmt. Am Ende soll sich die Botschaft der Kampagne wie die einzig richtige und logische Lösung anfühlen. Dafür müssen Kampagnen letztlich mehr auf das Herz als den Kopf zielen. Das folgende Diagramm unterstreicht diesen Ansatz als eine zentrale Säule für den Aufbau jeglicher sozialen Bewegung2 .
 

Abbildung 1: Der Fokus von Narrative-Change-Kampagnen liegt auf dem Herzen (nach Ganz 2011).

 

 

Konzentration auf Gruppen, die wir in der Debatte für uns gewinnen können: die bewegliche Mitte

Aktivist*innen müssen beim Einsatz des Reframing-Ansatzes strategisch vorgehen, indem sie sich auf eine Gruppe konzentrieren, die sie tatsächlich für sich gewinnen können, und zwar in einer Größenordnung, die in der öffentlichen Diskussion den Ausschlag geben kann. Deswegen fokussieren wir uns in unserem Toolkit auf die sogenannte „bewegliche Mitte“. In den meisten europäischen Ländern macht diese 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung aus. Eine große Gruppe, die nicht involviert, informiert oder mit den Problemen beschäftigt ist, aber empfänglich für das Programm von Mainstream-Medien und damit beweglich ist.

Dies bedeutet natürlich auch eine wesentlich komplexere Sicht auf diejenigen, die außerhalb unserer Unterstützer*innen-Gruppen stehen, und die Bereitschaft, eben jene mit unseren Kampagnen anzusprechen. Dieser Ansatz mag nicht für alle passen. Aber das Minimum, das benötigt wird, ist ein Verständnis für und die Unterstützung derer, die sich für diesen Weg entscheiden, sowie die Erkenntnis, dass dies ein wesentlicher Teil des Kampfes ist.

Die vielen Beispiele für diese Art der Kampagne sind auf unserer Seite mit Kampagnenfällen beschrieben, aber hier findet sich schon einmal ein kurzer Überblick zu den drei zentralen Fällen, auf die wir zurückgegriffen haben:


FALLBEISPIEL 4 - Gerüchteküche - Mannheim, Deutschland
Zwei Künstler*innen bauten eine Installation aus Küche und Esszimmer, welche im Frühling 2016 in drei Bezirken von Mannheim aufgestellt wurde. Passant*innen wurden eingeladen, sich zu setzen und Gerüchte über Migration zu teilen – die Künstler*innen „transformierten“ diese Gerüchte in ein Gericht (Visualisierung des Gerüchts), welches den Menschen serviert wurde. Dieses Erlebnis bildete die Basis für einen Dialog und das Ausloten verschiedener Narrative, um den Gerüchten zu begegnen.
 
FALLBEISPIEL 1 - Mohnblumen-Hijab-Kampagne, British Future, Großbritannien
Um antimuslimische Vorurteile zu widerlegen, entwickelte British Future eine Kampagne namens „Mohnblumen-Hijab“, welche der 400.000 muslimischen Soldaten gedachte, die in Kriegen für England fielen. Sie kreierten einen Hijab mit der Gedenk-Mohnblume als Motiv und starteten die Kampagne in der rechts-orientierten Tageszeitung „The Daily Telegraph“ unter dem Motto „Stolzer Brite – Stolzer Muslim“ bzw. „Stolze Britin – Stolze Muslima“.
 
FALLBEISPIEL 2 - Shrewsbury Gebetszentrum, Hope not hate, Großbritannien 
In Shrewsbury gab es Widerstand gegen ein geplantes muslimisches Gebetszentrum: Um den antimuslimischen „Othering-Frame“ der Zentrums-Gegner*innen herauszufordern, lenkte HOPE not hate die Diskussion zu den Frames Religionsausübungsfreiheit und Anstand. Zudem gelang es ihnen, lokale Gemeindevertreter*innen an Bord zu holen, welche die Botschaft an konservative Politiker*innen übermittelten, aufgebaut auf geteilten, vereinenden, aber letztlich zentral konservativen Werteansprüchen.

 

 

Struktur und Elemente der Leitlinien

 

Das Toolkit und die Leitlinien wurden im ICPA-Projekt „Reframe the debate! Neue Migrationsnarrative für konstruktiven Dialog“ (2017-2019) entwickelt, gefördert im Rahmen des Bundesprogramms „Demokratie leben!“ vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und von der „Social Change Initiative“ unterstützt.

Die Richtlinien basieren auf der Kampagnenpraxis und den Erfahrungen, die wir im Projekt gesammelt haben, sowie auf dem Wissen internationaler Partner*innen und Aktivist*innen. Konkret startet das Toolkit mit einem multidisziplinären Blick auf Öffentlichkeitsarbeit, Framing und Agenda Setting aus den Bereichen politischer Kommunikation3 , Verhaltensökonomie4 , kognitiver Linguistik5 , Sozialpsychologie6 und Verhandlungstechniken7 . Der Hauptfokus liegt allerdings darauf, wie Erkenntnisse aus diesen Feldern praktisch in internationalen Migrationskampagnen angewandt wurden8

Unsere Ziele bei der Bereitstellung dieser Leitlinien sind:

  • Unterstützung von Aktivist*innen und ihrer Kapazitäten, in der Migrationsdebatte effektiver die Mitte anzusprechen und einen Raum für politischen Dialog sowie Lösungen zu schaffen, die auf Vielfalt und Inklusion abzielen 
  • Anleitung von Aktivist*innen mit einem strategischen Ansatz, der auf theoretischen Grundlagen, Lehren aus der Praxis und einem aufeinander abgestimmten Prozess basiert, innerhalb dessen eine Narrative-Change-Kampagne geplant werden kann 
  • Anregung und Ermutigung von mehr Aktivist*innen und Kampagnen-Macher*innen, einen Reframing-/Narrative-Change-Ansatz für ihre Arbeit zu übernehmen, oder andere dabei zu unterstützen, die diesen Weg wählen 

Mit einem klaren Fokus auf der Unterstützung anwendbarer Kampagnenpraxis sind die Leitlinien um den folgenden Planungsprozess von Narrative-Change-Kampagnen strukturiert, entwickelt als Teil dieses Toolkits: 


Abbildung 2: Der Planungsprozess einer Narrative-Change-Kampagne

 

Bei allen fünf Schritten schlüsseln wir die Unterelemente jedes Schritts auf und unterstützen Aktivist*innen, indem wir:

  • jedes Element auf leicht zugängliche Weise vorstellen,
  • die aus der Kampagnenpraxis oder auf der Grundlage von Forschung gemachten Punkte illustrieren und 
  • gezielte Fragen an die Aktivist*innen stellen, die ihnen helfen, ihre eigene Kampagnenarbeit zu strukturieren.

Bevor wir zu den Schritten kommen, beginnen wir die Leitlinien mit einer Einführung zur Macht von Frames, warum sie zentral für unsere Herausforderung sind und wie sie auch eine Lösung dafür bieten.

 

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  • 1Fischer, Frank & Herbert Gottweis [eds.] (2012) The Argumentative Turn Revisited: Public Policy as Communicative Practice. Durham: Duke University Press & Scholten, P. & F. Van Nispen (2008) “Building Bridges Across Frames? A Meta-Evaluation of Dutch Integration Policy”. Journal of Public Policy 28/2, p.181-205.
  • 2Ganz, Marshall (2011). “Public Narrative, Collective Action, and Power.” Accountability through Public Opinion: From Inertia to Public Action, edited by Sina Odugbemi and Taeku Lee, World Bank Group, 2011, pp. 269-286.
  • 3Entman, Robert M. (2003) Cascading Activation: Contesting the White House's Frame After 9/11, Political Communication, 20:4, 415-432. & Druckman, J. N. (2001). On the limits of framing effects: who can frame? Journal of Politics, 63, 1041-1066. & Scheufele, Dietram A (1999) ‘Framing as a theory of Media Effects’ in Journal of Communication, Winter 1999, p.103-122.
  • 4Kahneman, Daniel (2011). Thinking, Fast and Slow. New York: Farrar, Straus and Giroux. & Thaler, R. H., & Sunstein, C. R. (2009). Nudge: Improving decisions about health, wealth, and happiness. New York: Penguin Books.
  • 5Lakoff, George (2002) Moral Politics: How Liberals and Conservatives Think. Chicago: The University of Chicago Press. & Lakoff, George (2014). Don't think of an elephant!: know your values and frame the debate : the essential guide for progressives. 2nd Edition. White River Junction, Vt, Chelsea Green Pub. Co.
  • 6Lewandowsky, S., Ecker, U., Seifert, C. M., Schwarz, N., & Cook, J. (2012). Misinformation and Its Correction: Continued Influence and Successful Debiasing. Psychological Science in the Public Interest, Supplement, 13, 106-131.
  • 7Stone, D., Patton, B., & Heen, S. (2000). Difficult conversations: How to discuss what matters most. New York, N.Y: Penguin Books. & Ury, W. (1991). Getting past no: Negotiating with difficult people. New York: Bantam Books.
  • 8US – America’s Voice, Frameworks Institute, The Narrative Initiative, Welcoming America & UK – British Future, HOPE not hate, Migration Exchange, Social Change Initiative