Kapitel 1. Einleitung

In den letzten 10 Jahren haben wir mit zivilgesellschaftlichen Organisationen (CSOs1 ) in Deutschland zusammengearbeitet, um mit einem Narrative Change-Ansatz zu experimentieren und wirksame Wege zu finden, um die skeptischen mittleren Zielgruppen in Bezug auf Migration und Integration zu erreichen, konstruktive Gespräche über gesellschaftlichen Zusammenhalt anzustoßen und letztendlich die öffentliche Meinung zu verändern, damit Vielfalt und Integration wieder auf die Policy Agenda gesetzt werden. Die vorliegende Toolbox stellt den Höhepunkt dieser Reihe von Experimenten dar und gibt einen detaillierten Einblick in die Praxis und die aus den Erfahrungen und Ergebnissen gezogenen Lehren.
 
Um die Toolbox so praktisch und tiefgründig wie möglich zu gestalten, liegt der Schwerpunkt auf einem erfolgreichen Social-Media-Pilotprojekt namens #KommMit, das 2023 durchgeführt wurde und sich an ein Segment der so genannten "beweglichen Mitte" richtet2 . In der Toolbox werden die wichtigsten Schritte in der Entwicklung dieses Narrative Change-Projekts von A bis Z und die daraus gezogenen Lehren dargelegt, um

ein breites Spektrum von CSOs und ihren Unterstützern, die sich für die Förderung des gesellschaftlichen Zusammenhalts in Deutschland einsetzen, dabei zu inspirieren und praktisch zu unterstützen, einen Narrative Change-Ansatz in ihrer Kommunikations- und Advocacy-Arbeit gezielt auf die bewegliche Mitte anzuwenden. Genauer gesagt hoffen wir, dass diese Toolbox besonders für diejenigen nützlich sein kann, die gegen die zunehmenden islamfeindlichen Einstellungen in der Mitte vorgehen wollen.

 

Um mehr über die Toolbox und wer sich dahinter verbirgt zu erfahren, siehe die Kapitel 8. Über die Toolbox & das Pilotprojekt.

 

1.1 Hintergrund, Begründung & Logik des Pilotprojektes

Das #KommMit Narrative Change-Pilotprojekt wurde von fünf Mitgliedern3 der deutschlandweiten CLAIM-Allianz4 entwickelt, wobei weitere 10 Netzwerkmitglieder zur Strategieentwicklungsphase einen Beitrag leisteten. Das Pilotprojekt wurde auf der Grundlage des Narrative Change-Ansatzes von ICPA entwickelt und im Rahmen des RESET-Projekts "The New Narratives Lab" von ICPA durch Mentoring und Kompetenzaufbau unterstützt. Insgesamt 22 Teilnehmer*innen aus 15 CLAIM-Allianz-Mitgliedern entwickelten und testeten ihre eigene Narrative Change-Strategie, die auf die bewegliche Mitte abzielt, um die längerfristigen strategischen Kommunikationsziele ihres Netzwerks zu unterstützen. Restless Communications5 unterstützte den Social-Media-Teil des Piloten, der von einer Koalition aus drei CLAIM-Mitgliedern im April und Mai 2023 durchgeführt wurde.
 
Zu Beginn des RESET-Projekts im Jahr 2020 gingen CLAIM Allianz und ICPA eine Partnerschaft ein, da wir beide die gesellschaftlichen Herausforderungen und das Potenzial von Narrative Change-Antworten erkannten. Die damalige Untersuchung zeigte, dass islamfeindliche Auslöser eine Haupttriebkraft für starke migrationsfeindliche Narrative waren, die sich in Deutschland immer mehr durchsetzen und auch dazu genutzt wurden, eine breitere populistische Agenda zu bedienen, die zu Spaltungen in der Gesellschaft führten7 . Die Mitglieder des CLAIM-Netzwerks waren sehr besorgt über die zunehmenden Fälle von Übergriffen und Gewalttaten gegen die muslimische Community in Deutschland, die sie aus erster Hand erfahren hatten8 . Sie waren auch frustriert, dass das Ausmaß dieses Problems in der Gesellschaft, insbesondere in politischen Kreisen, nicht anerkannt wurde.
 
Einige Hoffnungsschimmer und die Motivation für das Netzwerk, einen Narrative Change-Ansatz auszuprobieren, kamen von den vielversprechenden Ergebnissen des Experiments "gemeinsam menschlich" der deutschen muslimischen Jugendorganisation JUMA, das von ICPA unterstützt wurde. Ein weiterer Auslöser waren die emotional warme Reaktion und der Appell "mehr Gemeinsamkeit", den Jacinda Arden, die damalige Premierministerin von Neuseeland, nach dem Anschlag auf die Moschee in Christchurch im Jahr 2019 verwendete. Angesichts der positiven Wirkung dieses Ansatzes wollte CLAIM einen solchen Ansatz auch in Deutschland ausprobieren.
 
Daher konzentrierte sich die Arbeit von RESET darauf, CLAIM-Mitglieder dabei zu unterstützen, eine neue und positivere Konversation zu leiten und zu lenken, um die öffentliche Debatte auf breiter Ebene wieder ins Gleichgewicht zu bringen und Ängste in der Debatte über Muslim*innen und den Islam in der Gesellschaft abzubauen. Dies wiederum könnte dazu dienen, den politischen Raum zu öffnen und die Unterstützung zu gewinnen, die erforderlich ist, damit inklusive und auf Vielfalt ausgerichtete Policy-Vorschläge von einem breiten Spektrum von Politiker*innen und Entscheidungsträger*innen ernsthaft in Betracht gezogen werden. Dies wiederum würde dazu beitragen, das gemeinsame Ziel des gesellschaftlichen Zusammenhalts, nämlich mehr Toleranz und Respekt für die in Deutschland lebenden Muslim*innen und einen Rückgang der gegen sie gerichteten Übergriffe zu erreichen.
 

 

1.2 Langfristiger strategischer Kommunikationsansatz

Um diese nachhaltige Wirkung bei der Veränderung von Normen in der öffentlichen Debatte zu erzielen, müssen die Partner in großem Maßstab arbeiten, eine Bewegungsperspektive einnehmen und sich zu einem strategischen Kommunikationsansatz verpflichten. Dabei handelt es sich um eine langfristige Strategie, die über Einzel- oder Ad-hoc-Interventionen hinausgeht und auf "surround sound, volume and velocity“9 (Raumklang, Lautstärke und Schnelligkeit) abzielt, wobei wiederholte Interventionen die Präsenz im öffentlichen Diskurs erhöhen, die Narrative in Communities und breiteren Netzwerken sozialisieren und schließlich die breite Anhängerschaft aufbauen, die erforderlich ist, um die gewünschte Änderung von Policy und Verhalten zu erreichen.


Mit diesem längerfristigen strategischen Kommunikationsziel vor Augen wurde das #KommMit-Pilotprojekt als erster Schritt und als Katalysator für umfassendere Maßnahmen entwickelt. Daher bestand das erste Ziel darin, zu testen und zu beweisen, dass der wertebasierte Ansatz für CLAIM-Mitglieder funktionieren kann, indem er die Einstellungen derjenigen, die sich in der Mitte befinden, positiv verändert. Zweitens besteht das Ziel des Pilotprojekts darin, dass weitere CLAIM-Mitglieder und andere Netzwerke die #KommMit-Strategie übernehmen oder anpassen und damit beginnen können, die Präsenz auf breiter Ebene aufzubauen, die erforderlich ist, um das „Wetter" in der öffentlichen Debatte zu verändern (siehe Kapitel 7 für eine Anleitung dazu).


Nach Abschluss des RESET-Projekts und des erfolgreichen #KommMit-Pilotprojekts verfügt CLAIM nun über eine umfassende Expertise im Bereich Narrative Change, um diese Arbeit eigenständig weiterzuführen. Zu diesem Zweck hat ICPA sechs Personen aus den fünf CLAIM-Mitgliedern, die das Pilotprojekt geleitet haben, als Spezialist*innen für Narrative Change zertifiziert. Dieses Spezialistenteam ist nun in der Lage, die künftige Arbeit an #KommMit zu leiten und sich allgemein mit Narrative Change zu befassen. In den Danksagungen erfährst Du mehr zu den Einzelheiten über das zertifizierte Team.

 

 

1.3 Ansatz & Methoden für das Testen & die Evaluierung des Pilotprojektes

Wie bei allen Pilotprojekten ist es von entscheidender Bedeutung, verlässliche und fundierte Evaluierungsdaten zu sammeln. Für das #KommMit-Pilotprojekt haben wir eine solide empirische Grundlage geschaffen, indem wir von einer Evidenzbasis aus bestehenden und in Auftrag gegebenen Forschungsarbeiten ausgingen und dann an wichtigen Meilensteinen durchgehend Tests durchgeführt haben. Für einen solchen Narrative Change-Kampagnenansatz wurden die Evaluierungsziele durch die folgenden Ziele bestimmt: 

  • Reichweite (Wie viele Personen der Zielgruppe können angesprochen werden?);
  • Reaktion (Wie stark engagieren sie sich und wie ist die Stimmung ihrer Reaktion?)
  • Akzeptanz (Inwieweit beginnen wichtige Einflussnehmer*innen, die Narrative der Kampagne zu teilen und zu nutzen?) 

Im New Narratives Lab gingen wir von einem Verständnis der öffentlichen Einstellungen aus der Studie More in Common 201910 aus und erweiterten dann diese Einblicke, um die RESET-Segmente und auch eine Frames-Map der aktuellen Debatte zu entwickeln. Wenn man sich an eine mittlere Zielgruppe wendet, die den CSOs oft nicht vertraut ist, besteht die Gefahr, dass man beim  Messaging Annahmen trifft, die bei diesen Zielgruppen nicht ankommen und sogar zu einem Gegenschlag und einer ungewollten Verhärtung der Einstellungen führen können. In den verschiedenen Entwicklungsphasen führten wir daher die folgenden Tests durch, die dem Team die nötigen Beweise lieferten, um sicher zu sein, dass wir eine vielversprechende Richtung eingeschlagen hatten:

testing tools

Abbildung 1: Die Phasen des Ansatzes zur Prüfung von Botschaften in #KommMit 

 

Da es sich um ein Pilotprojekt handelte, bei dem es vor allem um die Frage ging, ob ein solcher Ansatz funktionieren könnte, haben wir in jeder Phase des Testens ziemlich viel investiert. Wir gehen nicht davon aus, dass die meisten CSOs genau dasselbe tun werden, aber ein Bekenntnis zum Verständnis dessen, was funktioniert, ist sehr wichtig, und am Ende ist "jeder Test besser als kein Test11 . Weitere Informationen über die verwendeten Evaluierungs- und Testmethoden findest Du in der ICPA-Ressource zu Testmethoden. Das ausführliche Evaluierungskonzept und die Ergebnisse des #KommMit-Pilotprojektes findest Du in Kapitel 3 und im Blog zum Pilotprojekt.

 

 

1.4 Toolbox-Inhalte & geplante Benutzer*innen

Die Toolbox folgt den Grundprinzipien der langjährigen ICPA-Ressourcen und ist so gestaltet, dass sie zugänglich, ansprechend und praktisch ist (z. B. ein Ausschnitt aus dem Reframing Migration Narratives Toolkit). Um die Zugänglichkeit zu erhöhen, ist die Toolbox als herunterladbare PDF-Datei und auch online in modularer Form auf Deutsch und Englisch verfügbar.
 
Für diejenigen, die nur die Grundlagen des Pilotprojektes kennenlernen möchten, z. B. welches Messaging verwendet wurden oder welche Stories funktionierten, beginnt jedes der Kapitel mit der Vorstellung dieser Schlüsselentscheidungen und -produkte des Projektes. Anschließend werden der Prozess und die Entscheidungsfindung in den einzelnen Phasen des Prozesses erläutert. In diesem zweiten Teil jedes Kapitels verwenden wir durchgängig Illustrationen aus dem #KommMit-Pilotprojekt und stellen wichtige Ressourcen zur Verfügung, von der Forschung über Mapping-Tools bis hin zu Interview-Agenden. Schließlich gibt es leserorientierte Checklisten mit Schlüsselfragen, die Dir helfen, mit Deiner eigenen Arbeit für den jeweiligen Schritt zu beginnen.
 
Im Einzelnen sind die Kapitel der Toolbox wie folgt gegliedert:

  Titel Fokus
Kapitel 2 Narrative Change als Advocacy-Ansatz Die grundlegenden Advocacy-Prinzipien, die im Pilotprojekt angewandt wurden
Kapitel 3 Überblick über das #KommMit-Pilotprojekt Schlüsselentscheidungen und Merkmale des Pilotprojektes und die Ergebnisse
Kapitel 4 Die #KommMit-Strategie & das Messaging Auswahl der Zielgruppe, der Werteappelle und des Messagings, die das Pilotprojekt leiten
Kapitel 5 Protagonist*innen & Stories Entwicklung der Stories der Protagonist*innen, die im Mittelpunkt des Pilotprojektes stehen
Kapitel 6
Die Social Media-Strategie des #KommMit-Pilotprojektes
 
Auswahl geeigneter Plattformen, Beschaffung der benötigten Daten, Aufbau eines Zielgruppenprofils und Entwicklung von Inhalten
Kapitel 7 Takeaways & Aufruf zum Handeln Die Schlüsselerkenntnisse und Ratschläge zur Anwendung der gelernten Lektionen


Die Toolbox soll CSOs mit unterschiedlichen Erfahrungswerten und Expertisen im Bereich Narrative Change unterstützen, angefangen bei denjenigen, die bereits über umfangreiche Erfahrungen im Bereich Narrative Change verfügen (z. B. diejenigen, die am New Narratives Lab teilgenommen haben) und den Ansatz selbst anwenden oder andere bei dieser Arbeit unterstützen möchten, bis hin zu denjenigen, die noch unerfahren sind, aber von diesem Ansatz lernen oder ihn unabhängig anwenden möchten.

Siehe Kapitel 7 für Anleitungen und Ideen zur Nutzung der Toolbox sowie die Checklisten, die in jedem Kapitel der Toolbox eingestreut sind. Um mehr über die Toolbox und wer sich dahinter verbirgt zu erfahren, siehe Kapitel 8.

 

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