Kapitel 2. Narrative Change als Advocacy-Ansatz

Das #KommMit-Pilotprojekt verfolgt einen wertebasierten Narrative Change-Ansatz, um Vielfalt und gesellschaftlichen Zusammenhalt zu fördern. Da dieser Ansatz noch nicht weit verbreitet ist und recht abstrakt erscheinen mag, werden in diesem Kapitel die Toolbox vorgestellt und die Grundlagen geklärt. In diesem Kapitel erhältst Du also Einblicke in:

  • Die Grundlagen der Narrative Change-Advocacy
  • die Vorzüge eines Narrative Change-Ansatzes.

 
Am Ende des Kapitels findest Du eine Checkliste, die Dir dabei helfen soll, Narrative Change als einen Ansatz zu betrachten, den Du in Deinen Advocacy-Werkzeugkasten aufnehmen kannst.
 


2.1 Was ist Narrative Change Advocacy?

Ein Narrative Change-Ansatz basiert auf der Prämisse, dass in emotional aufgeladenen und oft polarisierten Diskussionen wie der Migrationsdebatte die Werte, Bedenken und emotionalen Investitionen der Stakeholder*innen ein wichtiges Einfallstor zu Engagement und konstruktivem Dialog darstellen. Die Mitglieder der Öffentlichkeit neigen in solchen Debatten dazu, sich an eine der einflussreichen Stories oder Frames in der öffentlichen Debatte zu binden, die wie ein GPS für ihre Reaktionen wirken und ihnen sagen1 , was das Problem ist, welche Lösungen es gibt und wer die Guten und die Bösen sind. Ziel dieses Ansatzes ist es, die Debatte von den eingefahrenen Pro- und Contra-Positionen und Frames, die im öffentlichen und politischen Raum ausgefochten werden, zu lösen und die Ängste so weit abzubauen, dass die oft skeptische Öffentlichkeit in eine konstruktive Diskussion über das Anliegen einbezogen wird. Auf diese Weise steigert sich die Bereitschaft der Öffentlichkeit, ihre Einstellungen und bisher vertretenen Positionen zu einem Anliegen zu ändern. Und es gibt erprobte und getestete Evidenz für die Wirksamkeit dieses Ansatzes2 .
 
Genauer gesagt, konzentriert sich ein Narrative Change-Ansatz auf das Emotionale, auf das Ansprechen von Pathos, auf das Erzählen von persönlichen Erfahrungsstories, auf das Erzeugen von warmen Gefühlen, die die Zielgruppe ansprechen, indem sie eine gemeinsame Basis mit ihnen schaffen. Sobald Du die Aufmerksamkeit und das Interesse der Zielgruppe hast, liegt der Fokus darauf, die Annahmen, die sie macht, in Frage zu stellen. All dies dient als Grundlage für die Eröffnung eines konstruktiven Gesprächs zwischen Menschen, die unterschiedlicher Meinung sind. In Anlehnung an Marshall Ganz3 beginnt Narrative Change mit einem Appell an das Herz und eröffnet dann eine Diskussion über die Anliegen und Fakten (ein Appell an den Kopf) mit dem Ziel, die Menschen mehr auf Deine Seite zu ziehen oder zumindest die Ängste in der Diskussion so weit zu reduzieren, dass sie gegen eher rechtspopulistische Positionen immunisiert werden.
 
Die Schlüsseldimensionen des Narrative Change sind in der folgenden Tabelle 1 zusammengefasst, ebenso wie die Aspekte, die nicht unter diesen Ansatz fallen:
 

Was Narrative Change ist ✅ Was Narrative Change nicht ist ❌
Führen mit Werten und authentischen Stories Führen mit Anliegen, Fakten und Rechten
Eröffnung eines konstruktiven Gesprächs auf der Grundlage gemeinsamer Werte und/oder gemeinsamer Erfahrungen Magische Worte, die Einstellungen sofort ändern können
Eine Ergänzung zu mehr Fakten und einer an Rechten orientierten Advocacy Ein Ersatz für Fakten und einer an Rechten orientierten Advocacy
Eine pragmatische Lösung, um den Mittelweg in einer polarisierenden Debatte zurückzugewinnen Aufgeben Deiner eigenen Prinzipien oder die Verweigerung einer macht-/rechtebasierten Analyse
Ein emotional intelligenter Weg, um schwierige Gespräche mit Skeptiker*innen zu führen Ein Weg, um zu vermeiden, dass Menschen mit ihren diskriminierenden Ansichten konfrontiert werden
Finden übereinstimmender Werte als authentischer Ausgangspunkt für die Eröffnung eines Gesprächs Versuchen, der Zielgruppe zu gefallen, um sie zu überzeugen
Erweiterung Deines Advocacy-Werkzeugkastens, der das Messaging an Deine Unterstützerbasis ergänzt Ein Weg, Deine bestehende Unterstützerbasis zu verlieren

 

 
2.2 Warum einen Narrative Change-Ansatz annehmen?

In den letzten zehn Jahren sind Frustration und Wut unter progressiven CSOs über die Dominanz und das Mainstreaming einwanderungsfeindlicher Narrative in Europa gewachsen, die zuvor den Rechtsextremen vorbehalten waren. Viele empfinden auch ein Gefühl der Hilflosigkeit, da sie die Erfahrung machen, dass ihre üblichen Advocacy-Ansätze (z. B. evidenzgestützte Advocacy) nun weniger wirksam sind, wenn es darum geht, die öffentliche Unterstützung in der polarisierten Narrativlandschaft zu Migration und Integration wieder aufzubauen.
 
Wenn wir einen pragmatischen, ethischen und wertebasierten narrativen Ansatz vorschlagen, bitten wir die CSOs, die folgenden sechs Faktoren zu berücksichtigen, die uns von den Vorzügen dieses Ansatzes überzeugt haben:
 

Bei der Veränderung von Einstellungen geht es nicht nur um Fakten, sondern eindeutig auch um Werte und Emotionen. 

Alle in diesem Bereich durchgeführten Studien kommen zu demselben Ergebnis: Der Mensch verarbeitet politische Debatten in erster Linie emotional, d. h. wir sind eher offen für Vorschläge, die auf der Grundlage von für uns wichtigen Werten formuliert sind4 . Das Gegenteil ist ebenfalls wahr: Wir verschließen uns, ignorieren oder reagieren sogar verärgert auf Vorschläge, die keinen Bezug zu unseren Werten haben oder ihnen zuwiderlaufen (selbst wenn solche Vorschläge durch solide Evidenz gestützt werden!). Bei einer wirksamen Kommunikation mit dem Ziel, Einstellungen zu ändern, geht es also nie nur um Fakten zu einem Thema; vielmehr ist es entscheidend, Werteappelle zu finden, die mobilisieren und die Tür zu einer konstruktiven Debatte mit verschiedenen Zielgruppen öffnen. Bei einem wertegeleiteten Narrative Change-Ansatz werden Fakten und Analysen nicht ignoriert; stattdessen geht es darum, die Botschaft auf eine emotional intelligente Art und Weise zu vermitteln, so dass die skeptische Öffentlichkeit an den Tisch kommt und bereit ist, eine Debatte über oft polarisierende Themen zu führen. Diese Schritte sind im folgenden Diagramm dargestellt:

NC order

Abbildung 2: Die Kernschritte eines wertorientierten Kampagnenansatzes (ICPA)
 

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es unproduktiv wäre, die Realitäten der Informationsverarbeitung im menschlichen Gehirn zu ignorieren: Narrative Change und strategische Kommunikation zielen darauf ab, bewusster und gezielter zur Kenntnis zu nehmen, was das Gehirn ohnehin standardmäßig tut5 .


60%-70% der Öffentlichkeit sind in dieser Debatte beweglich und stellen derzeit ein enormes ungenutztes Potenzial dar.

Viele Interessierte, die sich mit verschiedenen gesellschaftlichen Anliegen befassen, neigen dazu, die Öffentlichkeit in Debatten als grob in Unterstützer*innen und Gegner*innen unterteilt zu betrachten. Eingehende (und wiederholte) Segmentierungs- und Meinungsumfragestudien zu den Einstellungen zu gesellschaftlichen Themen (einschließlich Migration) in Europa in den letzten zehn Jahren zeigen jedoch eindeutig, dass etwa 60 % bis 70 % der Öffentlichkeit zur sogenannten „beweglichen Mitte“ gehören, auch in Deutschland, wie in Abbildung 3 unten dargestellt. Als Gruppe ist die bewegliche Mitte nicht so stark in Anliegen involviert oder engagiert und vertritt oft widersprüchliche Ansichten. Wie das in dieser Toolbox beschriebene Narrative Change Pilotprojekt #KommMit und viele frühere Kampagnenerfahrungen zeigen, ist es jedoch möglich, ihre Meinung zu ändern, d.h. sie sind beweglich oder gewinnbar. Wenn das Ziel darin besteht, das Kräfteverhältnis in der breiteren öffentlichen Debatte zu verschieben und die Mitte zurückzuerobern, dann ist das ungenutzte Potenzial dieser mittleren Gruppe der Schlüssel.
 

 MM

Abbildung 3: Die bewegliche Mitte in Deutschland (nach einer Studie von More in Common 20196 )
 


 
Die Mitte einzubeziehen bedeutet nicht, dass Du Deine Unterstützerbasis verlierst.

Die Mitte einzubeziehen bedeutet nicht, dass Du aufhörst, Deine Unterstützerbasis zu mobilisieren: Dies ist ein Fall von „sowohl/als auch“, nicht „entweder/oder“ 7 . In taktischer Hinsicht müssen sich die Befürworter*innen einer breiteren gesellschaftlichen Bewegung darauf konzentrieren, BEIDE, die Basis der Unterstützer*innen UND die Mitte, zu mobilisieren, um das Ziel der Bewegung, den gesellschaftlichen Wandel, zu erreichen. Das folgende Diagramm bietet eine Momentaufnahme der umfassenden und sich ergänzenden strategischen Kommunikationstaktiken für Unterstützer*innen, Mitte und Gegner*innen:
 

targeting the middle

Abbildung 4: Ausrichtung auf die bewegliche Mitte als eine Taktik im Rahmen einer umfassenden strategischen Kommunikationsstrategie
 

Auch wenn diese Arbeit mit der Mitte eine Herausforderung darstellt und nicht für jeden geeignet ist, so ist sie doch ein wesentlicher Bestandteil der Gesamtdarstellung einer progressiven Bewegung und ihrer Strategie der Policy Advocacy. Eine Erkenntnis aus dem RESET-Projekt: Von dem breiten Spektrum an CSOs, die wir im Rahmen der CLAIM-Allianz unterstützt haben, waren diejenigen, die sich vor Ort bereits in Gemeinschaften mit mittleren Gruppen auf verschiedenen Ebenen engagieren, am ehesten daran interessiert, diese Arbeit mit der Mitte zu übernehmen. Dieser auf die Mitte ausgerichtete Fokus kam bei ihnen gut an, da dies bereits ihre tägliche Herausforderung ist.


 
Politische Einigung wird durch überlappenden Konsens erzielt.

Nachdem wir in den letzten zehn Jahren mehrere Kampagnen zum Thema Migration, die sich an die breite Öffentlichkeit richteten, in Deutschland und Europa entwickelt und getestet haben, und wissend, dass 60 % sich nicht wirklich für das Thema engagieren oder involviert sind (d.h. die bewegliche Mitte), ist die Vorstellung, dass eine Einigung in dieser Frage durch die Suche nach einem "übergreifenden Konsens" erreicht wird, eine pragmatische politische Realität. Das bedeutet, dass die Einigung von einer Vielzahl öffentlicher Gruppen getragen wird, von denen jede unterschiedliche Gründe für ihre Entscheidung hat, die Agenda zu unterstützen. Weitere Informationen hierzu findest Du in den Arbeiten des politischen Philosophen John Rawls8 . In Deutschland beispielsweise kann die Öffentlichkeit aus einer Vielzahl von Gründen eine positive Einstellung zu Migration und Integration haben, z. B., weil sie eine vielfältige Gesellschaft unterstützt, glaubt, dass die Wirtschaft Zuwanderung braucht, eine humanitäre Perspektive hat und/oder will, dass Deutschland ein Land ist, das Menschen in Not Asyl gewährt. Die jüngsten Siege der Progressiven in Europa wurden auf der Grundlage dieses pragmatischeren, sich überschneidenden Konsensverständnisses errungen. Ein wichtiger Wendepunkt für die Befürworter*innen der Gleichstellung der Ehe in Irland vor 2015 war beispielsweise die Frage eines erfahrenen Kampagnemachers: „Wollt ihr einen Streit oder ein Referendum gewinnen?" Die Antwort lautete natürlich: ein Referendum, und 2015 gelang dies, indem sie die Öffentlichkeit mit einer Vielzahl von Anliegen, Narrativen und emotionalen Appellen ansprachen und mobilisierten, die nötig waren, um über die Ziellinie zu kommen9 .


 
Verstehen ist nicht gleichbedeutend mit Zustimmung.

Einige Interessierte haben Bedenken, sich an die Mitte zu wenden, weil die Mitglieder der Mitte rassistische, sexistische und/oder antidemokratische Ansichten vertreten könnten und die Befürworter*innen sich bei dem Gedanken unwohl fühlen, sich in sie einzufühlen und einen gemeinsamen Wertebereich mit ihnen zu finden. Der erste Punkt, den es klarzustellen gilt, ist, dass die Beschäftigung mit der Forschung und der Versuch, ihre Positionen zu verstehen, keine Brücke zur Akzeptanz ihrer Positionen darstellt. Es handelt sich vielmehr um eine strategische Notwendigkeit, einen Ausgangspunkt zu finden, von dem aus man ein konstruktives Gespräch führen und sie dann herausfordern kann.
 
Zweitens geht es bei einem Narrative Change-Ansatz nicht darum, ein Gespräch zu beginnen, um der Mitte zu gefallen, sondern darum, gemeinsame Werte zu finden, die auch für Dich und Deine Organisation, Dein Netzwerk oder Deine Community authentisch sind. Bei der Arbeit am #KommMit-Pilotprojekt konzentrierte sich der Ausgangspunkt für die Einbindung der Mitte beispielsweise auf verbindende Werte rund um den gesellschaftlichen Zusammenhalt, z. B. Gemeinschaft, Interdependenz, Partizipation, generationenübergreifende Zukunft. Ebenso wichtig ist, dass die Koalition, die das Pilotprojekt durchführte, nicht bereit war, eine Kampagne auf der Grundlage des wirtschaftlichen Arguments der „Nutzbarkeit“ für die Migration aufzubauen, und daher nicht bereit war, diese Werteansprache zu verwenden. Der Grundgedanke besteht also darin, Ansatzpunkte zu finden, die als vereinender Ausgangspunkt dienen können und die dann die Möglichkeit bieten, das schwierige Gespräch zu führen.
 


Der Schlüssel zu einem ethischen Narrative Change-Ansatz liegt in der Transparenz und der Bereitschaft, auch schwierige Gespräche zu führen.

Manche Leute stellen diesen Ansatz in Frage, weil sie meinen, dass er zu weich ist und nach politischer Manipulation riecht. Wir wissen jedoch aus umfangreicher praktischer Erfahrung, dass es einen ethischen Weg gibt, diesen Kommunikationsansatz zu verfolgen. Erstens ist es wichtig, Deinem Netzwerk oder Deiner Community gegenüber von Anfang an transparent zu machen, dass Du einen wertebasierten Ansatz verfolgst, weil Du glaubst, dass dies notwendig ist; und zweitens musst Du Dich verpflichten, die anliegen- und faktenbasierte Konversation zu führen, sobald Du den Raum mit Werteappellen geöffnet hast. Diese sanftere Herangehensweise bedeutet also nicht, dass Du den schwierigen Gesprächen (über die Anliegen, Probleme, Fakten und Analysen, über die die Befürworter*innen wirklich sprechen wollen) aus dem Weg gehst; sie bedeutet vielmehr, dass Du in der Lage sein wirst, die Gespräche auf konstruktivere Weise zu führen, nachdem Du einen Raum für ziviles Engagement geschaffen hast. Nur dann besteht eine echte Chance, dass die Zielgruppe ihre Meinung ändert.
 


ICPA’s Schlüsselressourcen zum Narrative Change:
 
1.     Schlüsseleinblicke – ICPA (2018) Schlüssel zum Reframing der Migrationsdebatte
2.     Narrative Change - ICPA (2018) Reframing Migration Narratives Toolkit
3.     Strategische Kommunikation – ICPA (2023) Wissensbasis der Strategischen Kommunikation
 

 


2.3 Eignung von Narrative Change für Deine Advocacy-Arbeit 
 

Checkliste für den Einstieg - Könnte Narrative Change auch für Dich geeignet sein?
Lies Tabelle 1, in der die Schlüsseldimensionen des Narrative Change definiert sind, und werfe einen Blick auf die drei ICPA-Schlüsselressourcen zur Kommunikation mit der beweglichen Mitte.

Reflektiere anhand der folgenden Fragen, ob Narrative Change eine gute Ergänzung für Deinen Advocacy-Werkzeugkasten sein könnte.
  • Was sind Deine üblichen Advocacy-Ansätze und -Taktiken?
  • Welche Erfolge hast Du erzielt? Mit welchen Herausforderungen bist Du konfrontiert?
  • Was sind Deine aktuellen Advocacy-Prioritäten und -Ambitionen? Könnte ein Narrative Change-Ansatz diese Arbeit unterstützen?
  • Welche Erfahrungen hast Du in der Kommunikation mit eher skeptischen Zielgruppen gemacht? Wie wirksam waren Deine bisherigen Taktiken?
  • Könnte eine Methodik, die mit einem weicheren, werteorientierten Ansatz beginnt und zu einem konstruktiven Dialog führt, zur DNA Deiner Organisation passen?

 

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